Erster erhaltener Brief Hölderlins
an Nathanel Köstlin

           Hochehrwürdiger, Hochgelehrter
                        Insonders Hochzuverehrender Herr Helffer!

    Ihre immerwährende große Gewogenheit und Liebe gegen mich,
und noch etwas, das auch nicht wenig dazu beigetragen haben mag,
Ihr weißer Christen-Wandel, erwekten in mir eine solche Ehrfurcht
und Liebe zu Ihnen, daß ich, es aufrichtig zu sagen, Sie nicht anders,
als wie meinen Vater betrachten kan. Sie werden also mir diese Bitte
nicht übel nehmen. Etliche Betrachtungen, insonderheit seit ich wie-
der von Nürtingen hier bin, brachten mich auf den Gedanken, wie
man doch Klugheit in seinem Betragen, Gefälligkeit und Religion
verbinden könne. Es wollte mir nie recht gelingen;
immer wankte
ich hin und her
. Bald hatte ich viele gute Rührungen, die vermuth-
lich von meiner
natürlichen Empfindsamkeit herrührten, und also
nur desto
unbeständiger waren. Es ist wahr, ich glaubte, jezt wäre ich
der rechte Christ, alles war in mir Vergnügen, und insonderheit die
Natur machte in solchen Augenbliken, (dann viel länger dauerte die-
ses Vergnügen selten) einen auserordentlich lebhafften Eindruk auf
mein Herz;
aber ich konnte niemand um mich leiden, wollte nur
immer einsam seyn
, und schien gleichsam die Menschheit zu verach-
ten
; und der kleinste Umstand jagte mein Herz aus sich selbst her-
aus
, und dann wurde ich nur desto leichtsinniger. Wollte ich klug
seyn,
so wurde mein Herz tükkisch, und die kleinste Beleidigung
schien es zu überzeugen, wie die Menschen so sehr böse, so teuflisch
seyen, und wie man sich vor ihnen vorsehen, wie man die geringste
Vertraulichkeit mit ihnen meiden müsse; wollte ich hingegen diesem
menschenfeindlichen Wesen entgegenarbeiten, so bestrebte ich mich
vor den Menschen zu gefallen
, aber nicht vor Gott. Sehen Sie, Theuer-
ster HE. Helffer,
so wankte ich immer hin und her, und was ich that,
überstieg das Ziel der Mäßigung. Und heute insonderheit (am Sonn-
tag) sahe ich auf mein bißheriges Betragen gegen Gott und Men-
schen zurük, und faßte den festen Entschluß, ein Christ und nicht
ein wankelmüthiger Schwärmer, klug, ohne falsch und menschen-
feindlich zu werden, gefällig gegen den Menschen, ohne mich nach
ihren wahrhafftig sündlichen Gewohnheiten zu richten; Ich weiß ge-
wiß Gott wird durch seinen h. Geist mein Herz leiten; und nun bitte
ich Sie gehorsamst, Theuerster
HE. Helffer, seyn Sie mein Führer,
mein Vater, mein Freund, (doch das waren Sie schon lange!) erlau-
ben Sie mir, daß ich Ihnen von jedem Umstand, der etwas zu meinem
Herzen beiträgt, von jeder Erweiterung meiner Kentnisse, Nachricht
geben darf; Ihre Lehren, Ihr Rath, und die Mittheilung Ihrer Kent-
nisse, diese werden alle meine Wünsche, die sich aufs Zeitliche rich-
ten, befriedigen. Ich weiß gewiß, daß Ihnen diß aufrichtige Schrei-
ben nicht beschwerlich ist, und daß Sie diß Vertrauen als ein Zeichen
meiner Ehrfurcht und Liebe gegen Sie ansehen werden. Finden Sie
an diesen meinen Gesinnungen etwas fehlerhaffts, so bitte ich Sie,
mir solches zu entdeken. Ich schließe also und verbleibe mit aller

 Hochachtung

                                  Dero

                                              gehorsamster Diener

                                                    Hölderlin.

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